Berlin-Film-Katalog

(in Vorbereitung)

Rarität des Monats Februar 2013

Die Auswahl an Berlin-Filmen, die in den Kinos wie im Fernsehen läuft, wird immer kleiner. Das Filmbild der Stadt wird dementsprechend von immer weniger Werken geprägt. Und immer mehr Berlin-Filme, darunter auch bedeutende, geraten in Vergessenheit.

Deshalb und um zu zeigen, daß Berlin-Film-Katalog nicht nur auf Geld wartet, gibt es den Jour fixe des selten gezeigten Berlin-Films: Seit Juni 2012 wird jeweils am zweiten Montag im Monat im Brotfabrikkino eine Berlin-Film-Rarität präsentiert.

Vom 7.-10. und 12.-13. Februar 2013 um 18 Uhr sowie am 11. Februar 2013 um 20 Uhr lief


Die Beunruhigung

DDR 1981/1982 – 35 mm (1:1,37) – Schwarzweiß – 99 Minuten
Regie: Lothar Warneke. Szenenbild: Georg Kranz. Requisite: Hans-Joachim Bauer. Schnitt: Erika Lehmphul. Ton: Bernd Hennig. Tonmischung: Gerhard Ribbeck. Kostüme: Christiana Dorst, Ruth Leitzmann, Herbert Henschel. Maske: Heinz Bernhardt, Karin Wacker. Beleuchtung: Peter Meister, Peter Göhr. Regieassistenz: Christiane Plöger. Kameraassistenz: Dieter Lück, Norbert Kuhröber. Aufnahmeleitung: Wolfgang Lange, Egon Schlarmann, Rosalinde Schwarzer. Musik: César Franck (Präludium und Fuge h-moll opus 18). Szenarium: Helga Schubert. Dramaturg: Erika Richter. Kamera: Thomas Plenert.
Darsteller: Christine Schorn, Hermann Beyer, Christoph Engel, Sina Fiedler, Cox Habbema, Jörg Herrmann, Jarmila Kalovská, Ostara Körner, Mike Lepke, Bärbel Loeper, Wilfried Pucher, MDR Horst Röseler, Traute Sense, Dr. Helmut Schlegel, Walfriede Schmitt, Steffie Spira, Ilka Wendel.
Produktion: DEFA-Studio für Spielfilme, Gruppe Babelsberg. Produktionsleitung: Horst Hartwig.
Erstverleih: Progress.

Drehort: Berlin (u.a. Rathausstraße [Rathauspassagen], Fußgängerbrücke zum S-Bahnhof Storkower Straße [„Langer Jammer“], Centrum-Warenhaus am Alexanderplatz [heute Kaufhof], Palast-Hotel, Gerichtsgebäude Littenstraße, Schiffbauerdamm, Kantine des Berliner Ensembles, Schönhauser Allee, U-Bahnhof Dimitroffstraße [heute Eberswalder Straße]).

Projektion einer 35 mm-Kinofilmkopie. 

Für Experimente hatte die DEFA nie viel Sinn, Low-Budget-Produktionen gehörten kaum zu ihrer Vorstellungswelt. Insofern stellt dieser Film eine Ausnahme in der DDR-Kinematographie dar: Eine Ost-Berlinerin mittleren Alters wird überraschend mit der Möglichkeit konfrontiert, Krebs zu haben. In den wenigen Stunden zwischen dieser Nachricht und der Operation überdenkt sie ihr Dasein, trifft Verwandte und Bekannte. Geschildert wird dies wirklichkeitsnah ohne Studiobauten, mit Handkamera (geführt vom auf Dokumentarfilme spezialisierten Thomas Plenert), Direktton, Laien in Nebenrollen und teilweise improvisierten Dialogen. Für DDR-Verhältnisse ungewöhnlich auch: West-Berlin ist hier nicht böse oder tabu, sondern Wohnort einer guten, einst „republikflüchtig“ gewordenen Freundin, die zu Besuch kommt.

Unser Flyer zum Film.

Auf DVD erhalten Sie diesen Film hier.

Zuviel Realität?

Mit dem fundamentalen gesellschaftlichen Wandel, der um 1960 begann, ging ein regelrechter Hunger auf Realität im Kino und im Fernsehen einher. Er konnte bedient werden durch technische Innovationen (allen voran empfindlicheres Filmmaterial), die es erlaubten, mit sehr viel geringerem Aufwand als bisher Filme zu produzieren. Die sich daraus ergebenden Möglichkeiten – auch und gerade die Möglichkeit, weniger oder sogar gar nicht mehr in Ateliers zu drehen – nutzten alle „Neuen Wellen“ und „Jungfilmer“-Bewegungen jener Zeit, die es in vielen Ländern gab und die insbesondere mit dem Anspruch antraten, mehr von der Wirklichkeit zu zeigen, Leben und Gesellschaft realistischer abzubilden, sich zu verabschieden von der bis dato dominierenden Traumfabrik.

In der Spielfilmproduktion der DEFA schlug sich von diesem Zeitgeist, der zu einer weltweiten Erneuerung der Filmkunst führte, nur relativ wenig nieder. Nicht einmal die Chance wurde ergriffen, mit weniger Aufwand preiswertere und mehr Filme zu drehen. Low-Budget-Produktionen gehörten anscheinend einfach nicht zur Vorstellungswelt des staatseigenen Monopolbetriebs, und für Experimente hatte man dort nie viel Sinn – in ästhetischer Hinsicht fast noch weniger als in inhaltlicher.

Zu den wenigen DEFA-Regisseuren, die sich in einer anderen, auch und gerade im damaligen Verständnis moderneren Art des Filmemachens versuchen durften, zählte Lothar Warneke. Und wohl bei keinem seiner Werke konnte er diesbezüglich weiter gehen als bei „Die Beunruhigung“.

Die Mittel, derer er sich dabei bediente, waren andernorts wie gesagt seit rund zwei Jahrzehnten erprobt: Verzicht auf Studiobauten, Dreh in echten Wohnungen, Gaststätten, Praxen und anderen Originalschauplätzen. Besetzung von Nebenrollen mit Laien, die sich selbst spielen. Viel Einsatz von Handkamera (mit Thomas Plenert konsequenterweise geführt von einem schon damals renommierten Dokumentarfilmkameramann) und Direktton – letzteres auch deshalb kaum entbehrlich, weil das Gesagte teilweise improvisiert wurde. Die Einstellungen sind, insbesondere in den Dialogpassagen, recht lang – die Kamera beobachtet, was sich entwickelt. Wie die Szenen gerafft werden, wirkt fast rüde, wie jump cuts, woraus sich auch erklären würde, was gelegentlich wie kleine Anschlußfehler erscheint. Auf Musik wird fast völlig verzichtet.

Der halbdokumentarische Eindruck, welcher aus der Vermischung von Realität und Fiktion entstand, wurde noch verstärkt dadurch, daß man in Schwarzweiß drehte. Einerseits, weil schwarzweißes Filmmaterial billiger und leichter zu handhaben war. Andererseits wegen einer Sehgewohnheit, die mittlerweile fast in Vergessenheit geraten ist, obwohl sie erst in den neunziger Jahren verschwand: Weil Farbmaterial zunächst vornehmlich für besonders wirklichkeitsferne Genres wie Musicals oder Kostümfilme eingesetzt wurde, weil die Wochenschauen, die meisten Dokumentationen, das Fernsehen mit seiner umfangreichen aktuellen Berichterstattung, aber auch viele Low-Budget-Produktionen (die schon aus Kostengründen kaum Traumwelten schaffen konnten) schwarzweiß waren, gab letzteres – obgleich die Wirklichkeit eigentlich verfremdend – bewegten Bildern lange Zeit einen realistischeren Anschein.

Wie ein Widerhall dieser Sehgewohnheit wirkt es, wenn Regine Sylvester in ihrer Kritik von „Die Beunruhigung“ überrascht bemerkte: „Die Welt ist bunt. Diesmal nicht. Zwischen schwarz und weiß liegen die differenzierten Möglichkeiten dieses Films, an die man sich kaum noch erinnern konnte. Es ist wie früher im Kino, und es ist doch ganz anders, weil man zum Beispiel dieses Berliner Zentrum, die Erkennungssymbolik zwischen Fernsehturm und Palast der Republik, eigentlich nur in Farbe kennt. Fällt mir jetzt auf. Da verfremdet das Grau das beliebte Bellevue und konturiert die Nuancen von Geschichte und Spiel.“ (Tribüne, Berlin [Ost], 19. Februar 1982)

Bemerkenswerterweise wurde auf die Ästhetik dieses Films von den meisten Rezensenten kaum eingegangen. Ganz so, als wäre es für ostdeutsche Verhältnisse nicht fast schon schockierend, daß es hier eine Ton-Atmosphäre gibt, sich Aufnahmen in unterschiedlichen Räumen auch unterschiedlich anhören – bei der DEFA wie beim DDR-Fernsehen wurde gern nachsynchronisiert und dabei jeder Szene die gleiche sterile Ton-Atmosphäre verpaßt.

Verstört zeigte man sich eher von dem ungewohnt spontan wirkenden Spiel – wobei paradoxerweise die professionellen Darsteller meist überzeugender wirken als die Laien, die sich selbst spielen und ihren Einsatz daher tatsächlich als fragwürdig erscheinen lassen. Wenig Freunde fanden auch die ungeschliffen, also natürlich wirkenden Dialoge, der authentische Ton und Tonfall – es wird oft wenigstens dezent berlinert und manches so dahin- und weggenuschelt, wie man eben im wahren Leben spricht.

Horst Knietzsch, der Filmkritiker des damaligen SED-Zentralorgans „Neues Deutschland“, also der zumindest in politischer Hinsicht wichtigsten Zeitung der DDR, offenbarte Widerwillen – fast Panik – dagegen, daß in einem Film nicht jeder Satz gewichtig, nicht jedes Wort akustisch verständlich ist: „Improvisierte Dialoge bringen aber auch in die Szene naturalistische Elemente ein, die den geistigen Anspruch des Zuschauers nicht bedienen, die den künstlerischen Rhythmus stören. Im künstlerischen Spielfilm muß jeder Satz von Bedeutung sein, auch wenn – wie hier – viele Laien in die Darstellung einbezogen sind“, befand er im „Neuen Deutschland“ vom 25. Februar 1982. Als ginge es etwa in der Szene, in der die Protagonistin auf eine kinderreiche Familie am Eßtisch trifft, darum, was dort konkret geredet wird. Als wäre das Entscheidende dieser Szene nicht die Konfrontation der Protagonistin mit einem Leben, das ganz anders ist als jenes, für das sie sich entschieden hat. Und als hätte sie nicht unmittelbar zuvor mit ihrer guten Freundin darüber sinniert, wie es sein wird, wenn man alt ist – und ob man dann noch jemanden hat.

Aber selbst ein renommierter, kaum als Betonkopf bekannter Kritiker wie Fred Gehler plädierte in seiner Rezension (im „Sonntag“ vom 7. März 1982) letztlich dafür, gestalterisch doch bitte lieber beim Bewährten zu bleiben – schon Warnekes kleines Experiment war für die Verhältnisse der piefigen, erstarrten DDR der frühen achtziger Jahre offenbar zuviel. Da verfing auch nicht, daß „Die Beunruhigung“, wie Regine Sylvester berichtete, nur „etwa ein Drittel des Üblichen gekostet“ hat.

Doch wie gesagt: Die meisten Kritiker äußerten sich zur Form kaum. Stattdessen wurde vor allem weitschweifig der Inhalt nacherzählt und interpretiert. Dabei zeigte sich wieder einmal, daß Kritiken zuweilen mehr über die Rezensenten aussagen als über das Rezensierte. So wollten viele Kritiker aus dem Westen in diesem Film aus dem Osten partout ganz viele kritische, wenn nicht gar subversive Dinge entdecken. Gern betonte man, wie grau Ost-Berlin hier aussähe, wie schonungslos die Kälte in der angeblich so kuschelig-fürsorglichen DDR-Gesellschaft gezeigt würde, die mangelnde Sensibilität, die seelische Verkrüppelung der Menschen. Gern übersah man: Die Protagonistin sucht zwar immer wieder Kontakt zu anderen, erzählt aber niemandem vom Grund für ihren bevorstehenden Krankenhausaufenthalt, nicht ihrer Mutter oder ihrem Sohn, nicht ihrer guten Freundin oder ihrem Liebhaber. Sie bleibt ziemlich verschlossen, gibt sich zuweilen unwirsch, bricht Gespräche ab und macht es somit schwer bis unmöglich, auf sie und ihre Sorgen einzugehen.

Rezensenten aus der DDR bemängelten eher pflichtschuldig, daß die ehemalige Mitschülerin, die jetzt Richterin und damit eine wahrlich staatstragende Person ist, ziemlich negativ gezeichnet wurde, als seelenloser Apparatschik.

Die Figur der alten Freundin aus dem Westen wurde teilweise ineinander genau entgegengesetzter Weise interpretiert: So beschrieb sie H.G. Pflaum in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 15. September 1982 als „eine Klischeefigur, so fürchtet man für einen Moment, doch dann bedeutet genau dieser Kontakt über die Grenze hinweg einen Moment menschlicher Wärme und Verständigung, ohne daß Inge freilich zur Ruhe kommen würde.“ Und Michael Schwarze findet in der „Frankfurter Allgemeinen“ vom 13. September 1982, die Besucherin von jenseits der Mauer „spürt die Bedrängnis, wirkt wie eine mindestens halbwegs positive Figur, vergebens wartet man auf den Gesinnungsschlenker, das ideologische Raster, das diese Szene vermuteten propagandistischen Bedürfnissen anschmiegen würde.“ Selbige sah Horst Knietzsch im „Neuen Deutschland“ vom 25. Februar 1982 hingegen bedient: „Und das Gespräch mit einer anderen Jugendfreundin, die in Westberlin lebt, bleibt leer und versickert schnell im Sande, weil man sich im Grunde, wenn es um existentielle Fragen geht, nichts mehr zu sagen hat.“

Den Begriff „spoilern“ kannte man in Deutschland damals noch nicht, es war üblich, in Filmbesprechungen auch zu verraten, wie die Handlung ausgeht. Bei „Die Beunruhigung“ hatten dies die Autoren freilich selbst besorgt: Noch während des Vorspanns sieht man, daß der Protagonistin eine Brust fehlt. Die Frau sieht einer weiteren Kontrolluntersuchung entgegen. Dann beginnt die große Rückblende. Der Zuschauer kann sich also mit anderem befassen als mit der Frage, ob es nun Krebs ist oder nicht. Er kann sich auf das Verhalten und (vermutete) Fühlen der in einer Beratungsstelle tätigen Psychologin konzentrieren, die unversehens selbst in eine Psychokrise geraten ist. Und das, obwohl sie – die auch noch den Nachnamen Herold trägt – noch am Morgen jenes Tages, der zum Tag vor der Operation werden wird, erklärt hatte, sie tue nicht nur so, als wäre sie „unheimlich stark“: „Du tust, als ob dich überhaupt nichts erschüttern könnte“, hatte ihr Liebhaber – der mit einer anderen verheiratet ist – gemeint. „Ich muß unabhängig sein“, hatte sie bemerkt. Als alleinerziehende Mutter eines halbwüchsigen Sohnes, der bockig zu werden beginnt, der auch verliebt ist, und die meint, ihre Scheidung war „das Vernünftigste, was ich je in meinem Leben gemacht habe“.

Die einzige wirkliche Überraschung, die es am Ende des Films gibt: Erst zu diesem Zeitpunkt erfährt man, daß der Mann, mit dem jene Inge Herold im Bett aufgewacht ist, ein anderer ist als jener, mit dem sie dies drei Jahre zuvor getan hatte, am Beginn der Rückblende.

Weitere Überraschungen gibt es hier immer wieder für Kenner der DDR-Verhältnisse: West-Berlin ist in „Die Beunruhigung“ nicht böse (wie in den meisten DEFA-Filmen bis kurz nach dem Mauerbau) oder tabu (wie in den meisten DEFA-Filmen ab zirka Mitte der sechziger Jahre), sondern Wohnort einer guten, einst, in der achten Klasse, gar mit ihren Eltern „republikflüchtig“ gewordenen Freundin, die nun mal wieder zu Besuch kommt. Und angesichts deren Frechheit meint Inge Herold: „Man merkt, daß du unser Erziehungs- und Bildungswesen nicht durchlaufen hast: vor nichts Respekt!“ Als Inge ihre Mutter besucht, zeigt diese ihr Photos von West-Verwandten mit neuem Auto und auf Italien-Reise. Und der alte Freund, den die Protagonistin besucht, hatte im Westen studiert, die Nacht des Mauerbaus auch dort verbracht, war dann aber doch in den Osten zurückgekehrt. Als sich seine Tochter durch die Fernsehprogramme zappt, erscheinen kurz natürlich auch die westlichen Kanäle (später in der Nacht gibt es freilich nur noch Rauschen, weil auf beiden Seiten der Grenze alle TV-Sender abgeschaltet sind). Man kann sagen: West-Berlin ist in diesem Film ständig im Hintergrund präsent, so wie es wohl für viele DDR-Bewohner die Mauer war (derweil selbige von den West-Berlinern recht erfolgreich ignoriert wurde und sich die Einwohner dieser Stadthälfte für die östliche in der Regel nur interessierten, wenn sie dort Freunde und vor allem Verwandte hatten).

Man wundert sich, daß das alles die Zensur passierte.

Noch ein Detail zeugt von den damaligen Verhältnissen, mag heute aber kaum mehr auffallen oder mißverstanden werden: Inge kommt zu jenem altem Schulfreund, weil sie gerade seine Adresse erfahren hat – „da wollte ich mal Guten Tag sagen“ (auch bei ihrer Mutter taucht die Protagonistin unangemeldet auf). In der DDR galt es nicht als unschicklich, Menschen unangemeldet zu besuchen – es herrschte ja ein akuter Mangel an Telephonanschlüssen. Im Westen hingegen war es in den frühen Achtzigern schon üblich, erst einmal anzurufen: jemanden unangemeldet in seiner Wohnung zu überfallen – zudem noch jemanden, den man kaum oder kaum mehr kennt –, wäre als sehr eigenartig und frech erschienen.

J.G.

Mehr zu diesem Film hier.



Quellen der filmographischen Angaben: Originalvorspann und Originalabspann, eigene Drehort-Recherchen.

Bilder: Progress-Filmverleih/Dieter Lück und Progress-Filmverleih/Norbert Kuhröber.