Rarität des Monats November 2019
Die Auswahl an Berlin-Filmen, die in den Kinos wie im Fernsehen läuft, wird immer kleiner. Das Filmbild der Stadt wird dementsprechend von immer weniger Werken geprägt. Und immer mehr Berlin-Filme, darunter auch bedeutende, geraten in Vergessenheit.
Deshalb und um zu zeigen, daß Berlin-Film-Katalog nicht nur auf Geld wartet, gibt es den Jour fixe des selten gezeigten Berlin-Films: Seit Juni 2012 wird jeweils am zweiten Montag im Monat im Brotfabrikkino eine Berlin-Film-Rarität präsentiert.
Am 11. und 12. November 2019 um 18 Uhr lief
Geschichten jener Nacht
DDR 1966/1967 – 109 Min. (2972 m) – 35 mm (1:1,37) – Schwarzweiß
1. Geschichte: Phönix
Regie, Buch: Karl-Heinz Carpentier. Dramaturg: Dieter Wolf. Kamera: Hans-Jürgen Sasse. Bauten: Alfred Drosdek. Ausführung: Georg Wratsch. Musik: Georg Katzer.
Darsteller: Hans Hardt-Hardtloff (Kommandeur), Peter Sindermann (Bräutigam 1933), Peter Reusse (junger Karl), Gerry Wolff (Fremder), Raimund Schelcher (Maler), Jochen Zimmermann, Werner Lierck, Jutta Peters, Renate Bahn (Braut 1933), Erich Mirek, Dietmar Obst.
2. Geschichte: Die Prüfung
Regie: Ulrich Thein. Buch: Erik Neutsch, Ulrich Thein. Dramaturg: Dieter Wolf. Kamera: Hartwig Strobel. Bauten: Harald Horn. Ausführung: Heike Bauersfeld. Musik: Wolfgang Pietsch.
Darsteller: Jenny Gröllmann (Jutta Huth), Dieter Mann (Robert Wagner), Horst Schulze (Heinrich Huth), Inge Keller (Margitta Huth), Eberhard Esche (Dr. Ernest Huth), Regina Beyer (Gisela), Norbert Speer, Otmar Richter, Martin Flörchinger, Wolfgang Luderer.
3. Geschichte: Materna
Regie: Frank Vogel. Buch: Werner Bräunig, Frank Vogel. Dramaturg: Dieter Wolf. Kamera: Claus Neumann. Bauten: Alfred Hirschmeier. Ausführung: Willi Schäfer. Musik: Günter Hauk.
Darsteller: Ulrich Thein (Materna), Angelika Waller (Hanna), Johannes Wieke (Wiczorek), Werner Dissel (Kilian).
4. Geschichte: Der große und der kleine Willi
Regie: Gerhard Klein. Buch: Helmut Baierl. Dramaturg: Dieter Wolf. Kamera: Peter Krause. Bauten: Alfred Drosdek. Ausführung: Franz Fürst. Musik: Wilhelm Neef.
Darsteller: Erwin Geschonneck (Willi Lenz), Jaecki Schwarz (Wilfried Zank), Christoph Engel (Kämpfer mit Brille), Rudolf Ulrich (Karl), Ernst-Georg Schwill (Melder), Albert Zahn, Marianne Wünscher, Ingeborg Naß, Peter Kalisch, Eckhard Galonska, Willi Schrade, Eberhard Schaletzki, Otto Stark (müder Kämpfer), Peter Hill.
Produktion: VEB DEFA-Studio für Spielfilme, Künstlerische Arbeitsgruppe „Babelsberg“. Produktionsleitung: Dieter Dormeier.
Arbeitstitel: Episodenfilm zum VII.Parteitag.
Erstverleih: Progress.
Premiere: 8. Juni 1967, Berlin, Kino International.
In Folge des berüchtigten 11. Plenums des ZK der SED, das die zaghaften, nach dem Mauerbau begonnenen Reformansätze in der DDR beerdigte, wurde 1965/66 eine Vielzahl von DEFA-Filmen – teils noch vor ihrer Fertigstellung – verboten. Eine Gelegenheit, sich bei den Betonköpfen in der Staatspartei zu rehabilitieren, erhielt der staatliche Filmbetrieb 1966 mit „Geschichten jener Nacht“: Der „Episodenfilm zum VII. Parteitag“ (so der Arbeitstitel) rechtfertigte und feierte den Mauerbau noch einmal so, wie es einige DEFA-Produktionen bereits kurz nach der Grenzschließung getan hatten. Mit Frank Vogel und Gerhard Klein erhielten dabei zwei Filmemacher die Möglichkeit zur „Bewährung“, deren jüngste Arbeiten gerade verboten worden waren („Denk bloß nicht, ich heule“ und „Berlin um die Ecke“), die allerdings auch schon ganze Mauerbaurechtfertigungsfilme geschaffen hatten („... und deine Liebe auch“ und „Sonntagsfahrer“).
Die vier „Geschichten jener Nacht“, nämlich der Nacht des Mauerbaus, sind nur durch diesen Handlungszeitpunkt 13. August 1961 und die agitatorische Absicht miteinander verbunden. Noch einmal wird in ihnen das gesamte diesbezügliche Arsenal der DDR-Propaganda aufgefahren: Durch die „Grenzsicherungsmaßnahmen“ wurde der Dritte Weltkrieg verhindert, Schmutz und Schund und andere böse westliche Einflüsse wurden ausgesperrt, der Abwerbung hochqualifizierter, aber ideologisch labiler Fachkräfte, die sich vom auf Pump finanzierten falschen Schein des Westens blenden ließen, ein Riegel vorgeschoben, Grenzgänger waren aber eigentlich vor allem Prostituierte und Rowdies, beim Aufstand vom 17. Juni 1953 handelte es sich um eine Veranstaltung des RIAS usw. usf. Außerdem begründen drei der vier Geschichten in bekannter Manier die Politik der SED und deren Staat aus den Schrecken des Nationalsozialismus, der Verweis auf diese soll jedes aktuelle Handeln rechtfertigen.
Gleich in der ersten Episode „Phönix“ erinnert sich ein alter Kommandeur der „Kampfgruppen“ daran, wie er Anfang 1933 Menschen zur Flucht über die Grenze verhalf. In „Die Prüfung“ verlassen die wohlsituierten Eltern eines Mädchens, das kurz vor dem Abitur steht, die DDR. Die Tochter soll folgen, fühlt sich aber dem Staat ebenso verbunden wie ihrem ideologisch gefestigten Liebsten (Sohn eines NS-Opfers). „Materna“ erzählt die (Rückver-) Wandlung eines Kriegsheimkehrers vom Pazifisten zum begeisterten Waffenträger hauptsächlich durch einen aus dem Off gesprochenen Monolog. Mit „Der große und der kleine Willi“ wird schließlich versucht, die „Errichtung des antifaschistischen Schutzwalls“ auch ganz lustig darzustellen – wobei wiederum eine weltanschauliche Bekehrung vorgeführt wird.
Unter den Drehbuchautoren finden sich mit Erik Neutsch („Spur der Steine“) und Werner Bräunig („Rummelplatz“) zwei Schriftsteller, die von den Reformgegnern in der SED mehr oder weniger stark attackiert wurden. Vor der Kamera kamen zahlreiche prominente Schauspieler zum Einsatz, darunter auch Hauptdarsteller aus frisch verbotenen Filmen wie Angelika Waller („Das Kaninchen bin ich“), Dieter Mann („Berlin um die Ecke“) oder Peter Reusse („Denk bloß nicht, ich heule“).
Rückblickend erwies sich die Themenwahl dieser Ergebenheitsadresse an die Staatspartei als sehr treffend, hielt doch – neben den sowjetischen Panzern – nur die Mauer die SED an der Macht. Als vor dreißig Jahren von den Bürgern die Öffnung der Grenze erzwungen wurde (und die Sowjets nicht eingriffen), überlebte dies die DDR bekanntlich nur um wenige Monate.
Unser Flyer zu dieser Rarität. Sie dürfen ihn gern herunterladen, ausdrucken, verteilen oder einrahmen und an die Wand hängen.
Mehr zu dem Film hier.
Quelle der filmographischen Angaben: Filmformat, Länge: https://www.defa-stiftung.de/filme/filmsuche/geschichten-jener-nacht-teil-1-4/ (besucht am 20.10.2019). Premiere, Rollenzuordnungen: Ralf Schenk (Red.): Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg – DEFA-Spielfilme 1946-92, Berlin: Henschel 1994, S. 432 (dort werden als Darsteller in „Materna“ außerdem genannt: Frank Reckslack [Ulli], Werner Kanitz, Winfried Glatzeder [zwei Maurer]). Künstlerische Arbeitsgruppe, Arbeitstitel: Kino DDR (Progress-Presse-Informationen) Nr. 3/1967. Alle anderen Angaben: Kino DDR (Progress-Presse-Informationen) Nr. 9/1967 (dort die Länge mit 3093 m angegeben).
Bilder von oben nach unten: DEFA-Stiftung/Roland Dressel („Phönix“), DEFA-Stiftung/Alexander Schittko („Materna“), DEFA-Stiftung/Ferdinand Teubner („Die Prüfung“), DEFA-Stiftung/Heinz Wenzel („Der große und der kleine Willi“).